Junge Perspektiven der Türkeiforschung im deutschsprachigen Raum VI.: Zwischen Konflikt und Kooperation. Staat und Gesellschaft in der zeitgenössischen Türkei

Junge Perspektiven der Türkeiforschung im deutschsprachigen Raum VI.: Zwischen Konflikt und Kooperation. Staat und Gesellschaft in der zeitgenössischen Türkei

Organisatoren
Universität Hamburg, TürkeiEuropaZentrum (TEZ) / Network Turkey
Ort
digital
Land
Deutschland
Vom - Bis
30.10.2020 - 31.10.2020
Url der Konferenzwebsite
Von
Verena Niepel, School of Arts and Cultures, Abteilung Media, Culture, Heritage, Newcastle University (UK)

Junge Perspektiven der Türkeiforschung wurden erstmals digital diskutiert und thematisch erkundet. Zum Austausch eingeladen waren NachwuchswissenschaftlerInnen, die sich mit Themen der zeitgenössischen Türkei und der Diaspora beschäftigen. Parallel zu den Präsentationen und Diskussionen innerhalb der vier Workshop-Gruppen hielten die Teilnehmenden Ideen und Gedanken auf einem Miro-Board fest, das auch im Nachhinein noch aktiv als Kommunikationsmittel genutzt wurde.

Dieser Bericht behandelt die Workshop-Gruppe „Turkey Abroad: Public Diplomacy Between Rise and Decline“ (Die Türkei im Ausland: öffentliche Diplomatie zwischen Auf- und Abstieg). Hier lag der Fokus besonders auf den Auslandsbeziehungen der Türkei mit anderen Ländern, aber auch auf der Zivilgesellschaft bzw. Mitgliedern der Diaspora auf Mikroebene. Leitende Fragestellungen waren: Wie können Konzepte wie Nation und Transnationalität neu gedacht werden? Welche Herausforderungen gibt es bei der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit einer Gruppe, die so heterogen ist wie die der türkischen Diaspora? Wie können Machtbeziehungen der Türkei mit dem Ausland auf verschiedenen politischen Handlungsebenen (national, bilateral und transnational, z.B. auf europäischer Ebene) analysiert werden, auch hinsichtlich der Rekonstruktion historischer Narrative?

In der ersten Präsentationsrunde wurden insbesondere die Auswirkungen einer populistischen und nationalistischen Politik der Türkei auf die Zivilgesellschaft betrachtet. TOLGA KARAKOÇ (Berlin) nannte die muslimischen Freitagsgebete als einen wichtigen Aspekt der aktuellen türkischen Politik in der Konstruktion eines hegemonialen Diskurses. Dieser ziele darauf ab, Elemente der türkischen Geschichte wiederzubeleben und ein Narrativ zu erzeugen, das durch Nostalgie auch an eine emotionale Ebene appelliere. Inwieweit die Freitagsgebete instrumentalisiert werden, um die Vergangenheit zu rekonstruieren und so hegemoniale Interessen der Türkei in muslimisch dominierten Gesellschaften durchzusetzen, war die zentrale Frage von Karakoç. Wenn die Türkei eine politische Führungsrolle in der islamischen Welt einnehmen wolle, sei eine Form des Nationalismus notwendig, die sich umfassender und eindeutiger auf die osmanische Vergangenheit des Landes bezieht.

Auch bei AYDIN BAYAD (Bielefeld) ging es um die polarisierende Wirkung der türkischen Inlandspolitik über die Staatsgrenzen hinweg. Wie wird der populistische Kurs der türkischen Regierung in der Diaspora wahrgenommen? Zielt die türkische Diasporapolitik darauf ab, nationale Interessen im Ausland zu popularisieren? Ausgehend von diesen Fragestellungen stellte Bayad ähnlich wie Karakoc fest, dass der türkische Staat die zivilgesellschaftliche Ebene, in diesem Fall die Diaspora in Deutschland, für politische Zwecke instrumentalisiere. Besonders hervorzuheben seien die türkisch-rechtsextremistischen „Grey Wolves“ als Fokusgruppe. Bayad schlussfolgerte, dass diejenigen diasporischen Gruppierungen, die sich auf nationalistische Narrative beziehen, wie die „Grey Wolves“ oder DITIP, dazu tendieren, sich von ihrem Umfeld zu isolieren. Im Verlauf der anschließenden Diskussionen schien ihm besonders die Bezeichnung der türkischen Diaspora oder der zeitweise im Ausland lebenden TürkInnen problematisch.

VERENA NIEPEL (Newcastle) griff die begriffliche Unschärfe bezogen auf die türkische Diaspora auf. Welche Bezeichnung sei die passende: Menschen mit türkischem „Migrationshintergrund“? Post-MigrantInnen? „New Wave“ für diejenigen, die in den letzten Jahren nach Deutschland gezogen sind? Die Teilnehmenden stellten fest, dass es weder in wissenschaftlichen noch in alltäglichen oder medialen Diskursen eine eindeutige Bezeichnung gibt. Auch mit dieser Thematik setzte sich Niepel in ihrer Präsentation zum Thema türkische KünstlerInnen als „Kulturdiplomaten“ in Deutschland auseinander. Sie verglich die Situation von Kulturschaffenden in der Türkei der 1970er und 1980er Jahre mit aktuellen Entwicklungen seit den 2010er Jahren. Der Blick in die jüngste Geschichte beweise, dass es historische Parallelen gäbe. Die prekäre wirtschaftliche und politische Lage in der Türkei am Ende des 20. Jahrhunderts habe damals wie heute zu starken Einschränkungen in Kunst und Kultur geführt. Da Kulturdiplomatie als außenpolitisches Instrument unter der Führung der Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) erheblich an Wichtigkeit gewonnen habe, stellte Niepel zur Diskussion, inwieweit KünstlerInnen als „Kulturdiplomaten“ fungieren.

Ebenfalls mit der Mikroebene beschäftigte sich LAURA MEIJER (Paris/Berlin). Sie erklärte, dass eine tiefergehende wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Wahrnehmung und Reaktion auf die türkische Diasporapolitik bislang nur wenig stattfand. Meijer legte sich auf die Bezeichung „Post-MigrantInnen“ für Individuen mit „türkischem Migrationshintergrund“ fest, um begriffliche Uneindeutigkeit zu vermeiden. In ihrer Forschung fokussiert sie sich auf Programme für jugendliche Mitglieder der post-migrantischen Gruppe, die von der türkischen Regierung ausgerichtet (YTB) und laut Meijer als Eckpfeiler der türkischen Diasporapolitik betrachtet werden. Meijer präsentierte drei verschiedene Kategorien bei der Erzeugung von Narrativen bezüglich der YTB-Programme unter den Jugendlichen. Dabei waren die Themen Repräsentation und Zugehörigkeit zentral. Mit ihrer Forschung will Meijer den Jugendlichen eine wichtige Rolle in wissenschaftlichen Auseinandersetzungen geben und sie nicht als passive Akteure einordnen.

Eine Diskussionsrunde folgte den ersten vier Vorträgen. Besonders die These hinsichtlich der Nation als theoretischem Konzept, um die Beziehungen zwischen der Türkei und dem Ausland zu analysieren, wurde in Frage gestellt. Obwohl die Vortragenden verschiedene disziplinäre Schwerpunkte hatten – Kunstgeschichte, Politikwissenschaften, Geschichtswissenschaften –, waren sie sich einig, dass es Diskussionsbedarf gebe. Einleitend bezog sich Thomas Schad als Workshop-Gruppenleiter auf den Soziologen Ulrich Beck und dessen Arbeit zu globalen Transformationsprozessen.1 Nach Beck unterlägen Konzepte und Kategorien, die unsere Welt strukturieren, ständigen Veränderungen, wobei nicht nur der soziale Wandel gemeint sei. Wie können Begriffe wie „Diaspora“, die aus einer Zeit stammten, in der Nation und Staat als starre Konzepte gedacht wurden, in aktuellen wissenschaftlichen Debatten verwendet werden?

Laura Meijer betonte, wie wichtig es sei, die Begriffe Staat und Nation begrifflich auseinanderzuhalten, und dass diese nicht beliebig austauschbar seien. Das spiele in ihrer Arbeit besonders bei der Kritik an einer transnationalen Herangehensweise eine Rolle. Ein transnationaler Ansatz löse sich nicht genügend von den kritischen Kategorien Staat und Nation.

Die Entstehung von kategorialem Denken sprach auch Niepel an. In der Türkei seien Kunst und Kultur stark an einen nationalen Kontext gebunden und vom Staat beeinflusst. Durch die historische Kontextualisierung der Emigration von KünstlerInnen aus der Türkei (insbesondere nach Deutschland) zeigte sie, wie sehr das staatliche Handeln die Kunst in der Türkei des ausgehenden 20. Jahrhunderts reglementierte.

Bayad hob zu Recht hervor, dass auch abseits des wissenschaftlichen Diskurses die Nation als Konzept aus verschiedenen Blinkwinkeln betrachtet werden müsse. Zwar distanzierten sich viele von einer Denkweise, die an der Nation verhaftet sei, dennoch spielten die Nation und die Nationalität auf der Handlungsebene nach wie vor eine wichtige Rolle, die jede Ebene des persönlichen Lebens beeinflusse. Das Resümee der Gruppe war, dass die Grenzen der Konzepte Nation und Staat nicht nur gedanklich überdacht werden müssen, sondern auch der politische Handlungsraum erweitert werden muss, beispielsweise durch die Mitgliedschaft der Türkei in transnationalen Organisationen wie der UNO.

Dieses Thema griff LUKAS SCHLAPP (Frankfurt) auf, der über die polarisierende Sprache der Türkei bei den Generalversammlungen der UNO sprach. Seine methodische Herangehensweise war eine Stimmungsanalyse mit Hilfe von Programmiersprache. Dabei werden Daten aus Ansprachen des türkischen Vertreters in den Jahren 1980 bis 2018 auf die polarisierende Wirkung hin untersucht, wobei sprachliche Muster deutlich zum Vorschein treten. Auch eine Analyse der Dramatisierungstechniken durch Videoaufzeichnungen sei aufschlussreich; diese Art der Datenerfassung sei aber problematisch. Zwar erfasse der Textkorpus „United Nations General Debate Corpus (UNGDC)“ alle Reden im Zeitraum zwischen 1970 und 2018, doch filmische Aufzeichnungen von Beiträgen der türkischen Vertreter könnten rückwirkend erst ab dem Jahr 2015 abgerufen werden.

Auch ARDAHAN ÖZKAN GEDIKLI (Istanbul) fokussierte sich auf Sprache als Forschungsgegenstand und nahm dabei Reden des türkischen Präsidenten zwischen 2011 und 2016 zum Thema Afrika als Zielort türkischer Außenpolitik in den Blick. Seit den 2000er-Jahren habe die Türkei ihre Beziehungen zum afrikanischen Kontinent erheblich verstärkt. Mit einem diskurshistorischen Ansatz analysierte Gedikli die Sprache des türkischen Präsidenten. Besonders interessant seien die Positionierung westlicher Mächte als Kontrahenten in den Diskursen sowie das politische Narrativ der Türkei als „Stimme“ und „Hoffnung“ der Unterdrückten.

Ebenfalls einen außenpolitischen Fokus hatten die beiden folgenden Referenten. LAZLO SZERERENCSÉS (Graz) untersucht Formen der Vetternwirtschaft beziehungsweise der strategischen Unterdrückung von sozialen Gruppen und Unternehmen im Kosovo durch die türkische Regierung. Anhand von Interviews stellte er fest, dass unabhängige Akteure dazu forciert werden, ein bestimmtes Bild der Türkei zu vermitteln. Ziel der Türkei sei das „politische Überleben“ als autoritär geführter Staat.2

DÉNES JAEGER (Berlin) sprach über die „Soft Power“-Strategien der Türkei in den turksprachigen Republiken. Ausgehend von einer Arbeitsgruppe zu diesem Thema beschäftigt er sich mit dem Hochschulwesen in Kirgisistan. Ihn interessiert die Frage, ob der Einfluss der Türkei das Verhältnis der AbsolventInnen der kirgisisch-türkischen Manas Universität in Bischkek zum türkischen Staat ändert. Dabei stellte er fest, dass die Bindung an die Türkei durch die Universität nicht nachhaltig gestärkt werde.

Im Anschluss an die zweite Präsentationsrunde versuchten die Teilnehmenden, geeignete Adressaten eines Strategiepapiers zu finden und konkrete Handlungsempfehlungen zu formulieren. Dabei standen Teilnehmende, bei den die Außenpolitik im Fokus stand, vor der Herausforderung, einen geeigneten Akteur zu finden, der den türkischen Staat als Verursacher politischer und ziviler Missstände zum Handeln bewegen könne. Wie können autoritäre Staaten von außen beeinflusst werden? Ist die EU dazu legitimiert, in die Innenpolitik der Türkei zu intervenieren? Vortragende zum Thema der türkischen Diasporapolitik fanden leichter geeignete Ansprechpartner, zum Beispiel das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge oder kulturpolitische Organisationen in der Türkei und in Deutschland.

Besonders wertvoll war der Austausch aufgrund der Interdisziplinarität der Gruppe. Bei der Debatte über das Konzept der Nation wurde der Begriff allerdings nicht ausreichend auf seine historischen Hintergründe untersucht. Zwar schienen sich alle einig zu sein, dass ein Ansatz, der Perspektiven jenseits staatlicher Grenzen einbezieht, wichtig sei, doch das Verständnis einer Nation oder des Staates als einheitsstiftendes Element im positiven Sinne wurde außer Acht gelassen. Dennoch wurden viele neue Verknüpfungen von kunsthistorischen, politischen und geschichtlichen Sichtweisen deutlich. Es zeigten sich auch einige konzeptionelle Überlappungen wie etwa bei Bayar, Niepel und Meijer, die zwar unterschiedliche Zielgruppen hatten, aber bei der Datenerhebung auf Interviews als Methode und für Analysezwecke zurückgriffen und sich mit der Mikroebene beschäftigten. Auch bei den Vorträgen, die die Außenpolitik der Türkei auf höheren Ebenen betrafen, wurde die Türkei unabhängig vom geographischen Fokus als autoritärer Staat definiert, dessen Motivation eine erweiterte Einflussnahme im Ausland ist. In gruppenübergreifenden Gesprächen zeigte sich vor allem der Bedarf an mehr Zeit und mehr Dialog zwischen den verschiedenen Workshop-Gruppen. Die Beteiligung und das Interesse waren groß, was auch die aktive Nachbereitung des Workshops in Form einer Website zeigt.

Konferenzübersicht:

Sektion Turkey Abroad: Public Diplomacy Between Rise and Decline

Leiter: Thomas Schad (Berlin Graduate School Muslim Cultures and Societies, Humboldt-Universität zu Berlin)

Verena Niepel (Universität Newcastle): How much Agency Does the Artist Diaspora Have in Turkey’s Public Diplomacy?

Aydın Bayad (Universität Bielefeld): The Emergence of Transnational Populism in Turkey and Beyond: Isolationism Among Turkish Diasporic Communities

Ardahan Özkan Gedikli (Koç University Istanbul): Turkish Public Diplomacy in Africa: An Analysis of President Erdogan’s Narrative

Dénes Jäger (Humboldt-Universität zu Berlin): Higher Education as a Tool of Soft Power? The Case of the Kyrgyz-Turkish Manas University in Bishkek

László Szerencsés (Universität Graz): From Public Dipolmacy to Surveillance: Exclusion of “Traitors” and Inclusion of “Clients” in Turkey’s Foreign Policy in Kosovo

Laura Meijer (Sciences Po Paris / Freie Universität Berlin): The Micro-Level of Turkish Diaspora Politics: A Qualitative Analysis of the Perspectives of German Youth with a Turkish Migration Background on Diaspora Programs Organized by the Presidency for Turks Abroad and Related Communities (YTB)

Lukas Georg Schlapp (Goethe-Universität Frankfurt/Main): To Talk Turkey: Data Mining Approaches to Polarization in Turkey’s Statements in the General Debate of the UN General Assembly

Tolga Karakoç (Humboldt-Universität zu Berlin): Re-defining Turkish Nationalism: The Discourse of Resurrection in Friday Sermons

Anmerkungen:
1 Ulrich Beck, Die Metamorphose der Welt. Aus dem Englischen von Frank Jakubzik, Berlin 2016.
2 Joel S. Migdal, Strong Societies and Weak States. State-Society Relations and State Capabilities in the Third World, Princeton (N.J.) 1988.